Fotos: Wolfgang Broemser
Neues Augusteum und Paulinum, Leipzig
Architekt: Erick van Egeraat (Rotterdam)
Bauzeit: 2007-2012/17
Architekturen // Unicampus
Moderner Barock für Studierende
In Leipzig ist dem holländischen Architekten Erick van Egeraat die Quadratur des
Kreises gelungen: Sein charismatischer Neubau des Hauptgebäudes der Universität
rekonstruiert in moderner Formensprache die beiden Vorgängerbauten, die gotische
Universitätskirche St. Pauli und das gründerzeitliche Augusteum. Im Gegensatz zu
früher bilden sie jetzt einen zusammenhängenden Baukörper. Das neue Augusteum
nimmt die Fakultät für Mathematik und Informatik, das Rechenzentrum und das
Auditorium Maximum auf. Das neue Paulinum beherbergt die Aula und einen Altar-
und Andachtsraum, der zahlreiche Kunstwerke der vom SED-Regime gesprengten
Kirche enthält. Es wurde erst 2017, mit mehrjähriger Verspätung, eingeweiht; ein
Grund war wohl die zwischenzeitliche Insolvenz des Architekturbüros.
Das geistige Zentrum der Stadt
Der zerklüftete Komplex verleiht der Westseite des übergroßen Augustusplatzes wieder
eine Fassung. Fensterschlitze aus blauem Architekturglas und lisenenförmige Natur-
steinstützen prägen die Fassade. Die hochwertige Ausstrahlung zeigt, dass es sich hier
um das geistige und geistliche Zentrum der Stadt handelt. Die Giebelwand der neuen
Paulinerkirche wird von einem modern interpretierten Rosen- und Spitzbogenfenster
akzentuiert. Dahinter ragt, wie aus einem expressionistischen Filmset stammend, ein
nadelspitzer Glockenturm empor, der die Glocke der gesprengten Kirche enthält. Seine
Form beschwört die Erinnerung an den Dachreiter der mittelalterlichen Klosterkirche
herauf. Das neue Paulinum schlägt, in traumhafter Verrückung, einen suggestiven
Bogen zu seinem Vorgängerbau.

Das von Arwed Roßbach umgestaltete Augusteum (links) wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschä-
digt. Das spätgotische Paulinum trug nur geringe Schäden davon. Beide Gebäude wurden 1968 auf
Wunsch der Universität und durch Beschluss der SED-geführten Stadtverwaltung gesprengt (Foto
von 1947).
Schloss Hogwarts am Augustusplatz?
Die Aula der neuen Universitätskirche gaukelt mit ihren Strebepfeilern, Spitzbogen-
fenstern und dem Netzgewölbe ein gotisches Kirchenschiff vor. In dem Raum finden,
wie auch früher, sowohl Gottesdienste als auch weltliche Konzerte und akademische
Festakte statt. Wenn man weiß, dass sich über dem Kreuzrippengewölbe mehrere Ge-
schosse mit Räumen für Mathematik- und Informatikstudenten stapeln, kommt einem
das Kircheninnere wie sakraler Budenzauber, wie Fantasy-Architektur aus der Welt von
Harry Potter, vor. Das hybride Bauprogramm löst mit seinen unterschiedlichsten Nut-
zungen leichten Schwindel aus - ist das alles nur Schwindel? Nein, nein, das ist alles
ganz real.
Architektur als barocke Oper
Die exzentrischen Anforderungen haben den exzentrischen Architekten zu Höchstlei-
stungen angespornt. Der Holländer nennt sein unkonventionelles Bauen "modernen
Barock"- Architektur darf wieder expressiv sein und opulent, ihre Funktion übersteigen
und sie damit steigern. Waren van Egeraats bisherige Arbeiten barocke Fingerübungen,
so ist dieser Bau seine barocke Oper. Sie bringt Universität und Kirche als Schauplätze
eines geistigen Eigenlebens kongenial, mit architektonisch-eigenwilligen Mitteln, zum
Sprechen - oder Klingen. Dieser Wunsch nach Theatralik passt nicht schlecht zu einer
Stadt, die so sehr vom "Barock" des neunzehnten Jahrhunderts, der theatralischen
Architektur der Gründerzeit, geprägt ist. Hier ist der Schein als das höhere Sein will-
kommen - und sei er so fakeartig und anachronistisch wie bei Harry Potter. Doch das
'verrückte' Campus-Gebäude lebt, denn Exzentrik, also der Wille zum Ausdruck, ist
der Born alles Lebens.

"Da möchte man glatt noch mal Student sein, Bruder!"
"Kann es sein, dass du das schon mal gesagt hast, Kumpel?"
"Höhepunkt des Neubaus wird
zweifellos der Innenraum der
Aula, der mit der Materialwahl
von weißem Putz, Glas und
Porzellanelementen eine helle
und würdevolle Ausstrahlung
erzeugt. Ich bin davon überzeugt,
dass mit diesem Raum alle Dis-
kussionen über das Befürworten
oder Ablehnen des Wiederauf-
baus der Kirche beendet werden
und die Leipziger wieder froh
sein können mit der Erinneung
an die Paulinerkirche."
Der Architekt Erick van Egeraat
Das Eigenlob des Planers stinkt
nicht - das Innere des neuen
Paulinums bietet ein grandioses
Raumerlebnis. Zusammen mit
stehen damit die zwei schönsten
Kirchenneubauten der jüngsten
Zeit in Leipzig. Sie bilden nicht
nur einen Kontrast zu den vielen
Kirchenschließungen anderswo,
sie vermögen auch, ähnlich wie
Darbietungen von "O holy night",
den Ungläubigen ob seines Un-
glaubens traurig zu stimmen...
Leibniz-Denkmal im Leibniz-
forum, dem Innenhof der
neugestalteten Universität
Universitätscampus