Zusammen wohnen, zusammen kochen
Der innenstadtnah gelegene Komplex ist voll vermietet, die Liste der Warten-
den lang. 67 Bewohner aus vier Generationen - das Durchschnittsalter liegt
bei 56 Jahren - erfüllen derzeit die Theorie des gemeinschaftlichen Woh-
nens mit Leben. Und das treibt schöne Blüten: Bewohner verfassten etwa
ein Kochbuch mit Rezepten, die die unterschiedliche Herkunft der Kochge-
nossen widerspiegeln. 2012 wurde das Haus Preisträger beim Wettbewerb
"Lebendige Nachbarschaft in Rheinland-Pfalz". Die Landesregierung unter-
stützte die Planung der Wohnanlage mit 12.000 Euro, um deren Modell-
charakter zu würdigen.
Fotos: W. Broemser
Wohnprojekt Karolingerstraße, Andernach
Planung: Gesell, Kriesten + Partner (Andernach)
Bauzeit: 2005-2006/2008-2010
Die Reihenhäuser verfügen über zwei Geschosse, die Mehrparteienhäuser
über drei Geschosse und ein Staffelgeschoss. Privatgärten im Erdgeschoss,
verglaste Balkone bzw. Wintergärten im Mittelteil und Terrassen für die
Dachwohnungen vermitteln zwischen Innen und Außen. In einem eigenen
Baukörper sind ein Café und zwei Gästewohnungen untergebracht. Der
grüne Innenhof des Quartiers dient als gemeinsamer Rückzugsort. Zwei
Blockheizwerke versorgen die Wohnanlage mit Wärme und Strom.
Architekturen // Mehrgenerationenhaus
Foto: Gemeinnütziger Bauverein eG
»Mehrgenerationenhäuser sind wie soziale Bienenstöcke in unserer Gesellschaft.«
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen
»Wir haben uns bewusst für eine hochwertige Ausstattung entschieden und kreativen Ideen den Vorrang gegeben.« Der Architekt Klaus Gesell
"Unterm Strich zähl ich" - dieses Werbemotto einer Bank gilt nichtnichten in
einem Mehrgenerationenhaus! In den 450 Häusern dieser Art, die es derzeit
in Deutschland gibt, leben Jung und Alt unter einem Dach, tauschen ihr
Wissen und ihre Erfahrungen aus. Wie in einer Großfamilie helfen sich die
Bewohner, feiern gemeinsam Feste, machen Ausflüge oder treffen sich zum
Stammtisch. Nachbarn achten auf Nachbarn - das erlaubt es den immer
älter werdenden Menschen, möglichst lange im eigenen Zuhause zu bleiben.
Auf die unterschiedlichen Wohnbedürfnisse der Generationen antworten
unterschiedliche Wohnungstypen. Ein bisschen zählt also doch das Ich...
Günstige Miete & lebenslanges Wohnrecht
Trotz der gehobenen Ausstattung bietet das Mehrgenerationenhaus bezahl-
bare Mieten. Wer einziehen möchte, muss Mitglied des Bauvereins werden
und Anteile von 540 Euro/qm für eine Wohnung und 340 Euro/qm für ein
Reihenhaus zeichnen. Die Wohneinheiten sind zwischen 46 und 91 qm groß;
Standard ist eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad (60,5 qm). Die
Kaltmiete liegt mit 5,40 Euro/qm etwa drei Euro unter dem lokalen Durch-
schnitt und verringert sich bei Zuteilung einer Dividende noch weiter. In den
ersten 15 Jahren bleibt sie unverändert; außerdem besteht ein lebenslanges
Wohnrecht. Man wohnt zur Miete wie im Eigentum.
Wohnen in der Wir-Form
Mehrgenerationenhaus
"Widerliche Rezepte - Menschen wissen nicht, was schmeckt."
Innovatives Genossenschaftsprojekt
Bauherrin des Mehrgenerationenhauses ist eine traditionsreiche Ander-
nacher Genossenschaft, die mehr als 750 Wohnungen bewirtschaftet. Mit
dem Projekt in der Karolingerstraße betrat sie Neuland. In einem ersten
Bauabschnitt entstanden 23 Seniorenwohnungen, später folgten zwölf
weitere Wohnungen und acht Reihenhäuser für junge Familien. Die alters-
gerecht eingerichteten Wohnungen werden vertikal durch Treppen mit
Aufzug erschlossen, horizontal durch Laubengänge und außen liegende
Haustüren - dadurch sind alle Einheiten barrierefrei zugänglich.
"Aber Servietten und Zahnstocher find' ich cool - Menschen sind hygienischer als ich dachte."
"Trotz dieser großen, fetten Leiber, igittigit!"
Architekten als Schamanen
"People meet in architecture."
Die japanische Architektin Kazujo Sejima, Trägerin des Pritzker-Preises
Das Reißbrett - ein Riesenbrett: Architekten heute müssen Tausendsassas sein, Techniker, Künst-
ler, Unternehmer und Sozialtherapeuten in einem. Sie sollen auch "heilen", gesellschaftliche Fehl-
entwicklungen korrigieren, buchstäblich den Grundstein für ein besseres Leben legen. Sie sollen
nicht nur Stadtbilder reparieren und Bestandsbauten revitalisieren, sie sollen auch Menschen in
Wohnprojekten und kommunikationsfördernden Grünzonen zusammenführen. Einem Berufs-
stand, der oft als abgehoben und selbstverliebt gilt, wächst damit eine erhebliche Verantwortung
zu. Seine Vertreter müssen sich erden, auch mit den Nutzern reden statt nur mit Bauherren und
Verwaltungen. Im Andernacher Beispiel ist das der Fall: Der Architekt ist Mitglied der Genossen-
schaft, sein Büro liegt in derselben Straße wie das Mehrgenerationenhaus - so kann der Planer
ständig überprüfen, ob sein Quartier funktioniert, ob seine Baukunst auch soziale Kunst ist.