Fotos: Manuel Herz, W. Broemser
Neue Synagoge, Mainz
Architekt: Manuel Herz (Basel/Köln)
Bauzeit: 2008-2010
Gebauter Segensspruch
Die Teile des Gebäudes bilden die fünf Buchstaben des hebräischen
Wortes "Kedusha" ("Segensspruch") skulptural nach. Durch das Sprechen
eines Segensspruches, etwa beim Verzehr von Brot und Wein, wird ein
weltlicher Gegenstand erhöht und geheiligt. Metaphysische Erhöhung ist
nur durch die Gegenwart Gottes möglich. Neben dem Gebets- und dem
Veranstaltungssaal beherbergt die neue Mainzer Synagoge eine Mikwe,
eine Hebräischschule, eine koschere Küche, einen Sozialdienst und die
Verwaltung.
Architekturen // Synagoge
*) Reichspräsident Hindenburg ernannte 1933 Adolf Hitler zum Kanzler. Dieser ordnete einige Jahre später den Holocaust an. Wieso die Stadt Mainz, die ein Drittel der Baukosten der neuen Synagoge übernahm, nicht zugleich die Hindenburgstraße umbenennen konnte, erscheint völlig unverständlich. Keine deutsche Schule lautet heute noch auf Hindenburg, also sollten auch die gleichnamigen Straßen verschwinden.
"So ist es, Bruder. Gott ist nichts für reife Tiere."
"Bei der Architektur-Biennale in Venedig rief die Japanerin Kazujo Sejima jüngst die wich-tigste Aufgabe von Architektur ins Gedächtnis: 'People meet in architecture', so ihr Motto. Diese Botschaft wurde aufgesaugt wie von einem Schwamm. Menschen begegnen sich an realen Orten am liebsten... Öffentliche Häuser, Straßen und Plätze müssen uns heraus aus den Kapseln, den Kokons locken, damit wir Men-schen unter Menschen statt Fremde unter Fremden bleiben."
Ursula Baus, Frankfurter Rundschau
Die Leiden der Juden sind "nicht das Zentralthema dieser Synagoge. Sie ist mit einem Kindergarten, Jugendräumen, Seniorentreffs und einem wunderschönen Garten dem (Gemeinde-)Leben gewidmet."
Dieter Bartetzko, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Architektur schafft Werte - daran wird man beim Bau eines religiösen Zentrums besonders erinnert. Sakrale Bauwerke haben einen privilegierten Zugang zur sozialen, Gemein-schaft stiftenden und zur psychologisch-aktivierenden Kraft der Baukunst, da sie nicht trivial sind, sondern Glaubens-inhalte widerspiegeln. Auch Profanarchitektur kann diese Kraft entfalten, den bloß funktionalen Wert einer Immobilie vom Glanz ihrer ideellen Werte überstrahlen lassen. Nur dann gibt Archi-tektur ihr Bestes, nur dann kann sie auch ihre Nutzer dazu bewegen, ihr Bestes zu geben. Menschen muss das Gefühl vermittelt werden: Es geht um euch, ihr seid uns eine besondere architektonische Anstrengung wert. Gute Ge-bäude kümmern sich, wie gute Lehrer, um ihre "Schützlinge". Sie sprechen sie an und bringen sie zum Sprechen. Sie dienen dem Menschenlob. Die Kultur-häuser der DDR erfüllten diese Aufgabe vorbildlich*, dank
einer visionären Politik; Schul-
und Hochschulgebäude schei-
tern oft kläglich an ihr, wegen einer Politik, die sich für die Zukunft der Menschen nicht wirklich interessiert.
"Church architecture describes visually the idea of the sacred, which is a fundamental need of man." Mario Botta, Architekt
Ein Gotteshaus aus Buchstaben
"Erdmännchen und Religion? Sorry, wir sind der Erde verbunden, nicht dem Himmel - sonst hießen wir ja Himmelsmännchen!"
Neue Synagoge
Das Lauschen auf Gott
Das nach Osten, also Jerusalem, gerichtete trichterförmige Dach des
Gebetssaales stellt ein Schofar dar. Das Widderhorn wird zu den wich-
tigen Ereignissen im jüdischen Jahr geblasen und ruft die Gemeinde
zusammen. Es bringt den Ruf nach Gott, das Lauschen auf Gott und das
Empfangen des göttlichen Lichts und Seiner Weisheit zum Ausdruck. Im
Inneren der Synagoge erstrahlt alles in weißer Farbe, nur der Gottes-
dienstraum glänzt goldfarben. An den Wänden sind zehntausende
Schriftzeichen zu sehen, die sich an einigen Stellen zu lesbaren Texten
fügen. Der Versammlungsraum enthält rund 450 Plätze - dringend
erforderlich für eine Gemeinde, die inzwischen auf mehr als tausend
Mitglieder, die meisten davon aus der ehemaligen Sowjetunion,
angewachsen ist.
Das vielfältige Kulturprogramm des neuen Gemeindezentrums steht
auch Nichtjuden offen.
Mit dem Neubau der Synagoge hat die Jüdische Gemeinde in Mainz ein
neues Zentrum bekommen. Das Gebäude steht in der Hindenburgstraße*
am Platz der alten Hauptsynagoge, die am 9. November 1938 von den
Nazis zerstört wurde. Die Architektur der Synagoge ist außergewöhnlich
und geprägt von religiösen Symbolen. Je nach Blickwinkel und Lichteinfall
ergeben sich neue Perspektiven auf das Gebäude. Keine Wand steht in
einem rechten Winkel zu einer anderen. Auf der Fassade sind Tausende
blaugrüne Keramik-Kacheln angebracht, die von schräg angeordneten,
unterschiedlich großen Fenstern durchbrochen werden.
Freie Formensprache à la Libeskind
Der Anblick der Synagoge ist gewöhnungsbedürftig - ein, so der Archi-
tekt, gewollter Effekt: "Sie soll sich dem Betrachter nicht auf den ersten
Blick erschließen, das wäre banal." Und banal dürfe eine Synagoge nicht
sein. Der metaphorisch-expressive Bau mit seiner freien Formensprache
erinnert an Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin - kein Zufall,
denn Manuel Herz ist ein Schüler des berühmten New Yorker Archi-
von heute wohl keine Chance mehr hätte, zumindest nicht bei Bau-
projekten der öffentlichen Hand).
*) Die sog. "dritten" Orte wie die Deichman Library Oslo können als ihre (kapitalin-tensiven) Nachfolger gelten.